Sonntag, 10. Juni 2012

Kreisende Geier

Kennen Sie noch Fahrkartenschalter? Früher gab es die an jeder U-Bahnstation und jedem (Fernreise-) Bahnhof. Heute zockt die DB jeden Fahrgast mit einer Bearbeitungs-/Beratungs-/Servicegebühr von bis zu fünf Euro ab, wenn man am Schalter sein Ticket holen will und die Verkaufsbuden sind verwaist. Heute sind viele der Kartenverkäufer wohl arbeitslos, denn die Bahn hat es geschafft, Kunden zu vergraulen, die nicht Online kaufen können/wollen und die anderen wurden zwangsweise in das Umerziehungslager namens "Onlinebuchung" geschickt. Oder man darf sich durch kryptische Zonenmodelle hangeln - auf einem schlecht justierten und durch häufiges angrabbeln halb defekten Touchscreen.
Nun steht seit einigen Jahren die nächste Revolution an, die wieder Arbeitslose produziert und den Kunden zum Mitarbeiter im Unternehmen macht. Bisher in Deutschland noch eher selten, aber im Ausland doch schon öfter anzutreffen, sind SB-Kassen. Anstatt einer professionellen Kraft das Scannen in Rekordgeschwindigkeit zu überlassen (nach dem mit Aldi auch der letzte Vertreter des Preiseintippens umgestellt hat), greift der Kunde selbst zur Pistole und kassiert sich selber ab. Der Vorteil für den Kunden? Keiner. Es dauert länger da man nicht geübt ist und den Barcode auf der Verpackung erst einmal suchen muß (davon was passiert, wenn der Barcode mal wieder im System fehlt, wie es ja auch nach mehr als 35 Jahren Strichcode fast bei jedem Einkauf vorkommt, wollen wir gar nicht reden). Und dann muß man sich auch noch durch das oft grottenschlechte Bedienmenü des Terminals quälen. Das es schneller geht, glaubt man nur, weil man aktiv ist, statt nur die Ware im Einkaufswagen zu deponieren. Trotzdem erproben die großen Handelsketten das System mit Begeisterung, denn so können wieder Personalkosten gesenkt werden. Und nur darum geht es oder fällt irgendwem ein anderes Argument ein? Nur was habe ich davon? Sinken die Preise dann oder dauert es länger bis zur nächsten "Preisanpassung" nach oben, gibt es mehr Service?
Mir bleibt vorerst einmal der Spaß am elektronischen Spielkram. Und meine Tochter kann gleich mal in ein aussterbendes Berufsfeld hineinschnuppern. Also nichts wie ran an die "Expresskassen" beim schwedischen Möbelhaus.
Expresskasse. Quelle: Ikea

Aber kaum steht man da, schleicht sich eine Kassenaufsicht an einen heran und weicht nicht mehr von der Seite. Dein Kind ist ganz fasziniert von den roten und grünen Lichtern und piepsen, wenn der Strichcode erkannt wurde. Die genialen Kassensystemprogrammierer haben zwar eine rudimantäre Funktion vergessen, um zu sagen, man hat einen Artikel gleich mehrfach, aber das ist ja kein Problem, scannt man halt den gleichen Artikel mehrmals, ohne die anderen anzurühren. Aber der Cleverness mißtraut die Aufsicht und schiebt sich auffallend unauffällig noch näher und schielt in die Tasche (die man übrigens schon weit vor dem Kassenbereich hätte leeren müssen, um dann den gesammelten Kleinkram vermutlich im Arm zur Kasse zu tragen, was aber  den Vorteil hätte, daß die Anschleicherin besser sehen kann). Ups, da haben wir doch glatt einen Artikel zweimal gescannt, aber nur einen dabei. Na das sollte so ein Hightechsystem schnell ("expreßartig") regeln können. Also "Storno" anklicken. Aber nein, das geht ja nicht, da muß erst die Kassenaufsicht Ihre Magnetkarte durchziehen und einen Bon für sich ausdrucken. Aber natürlich erst, nach einem gründlichen Verhör, warum man denn den Artikel stornieren will. Scheint ein suspektes Verhalten zu sein. Anschließend wird der Artikel dann weggenommen, weil man ihn ja stornieren wollte. Ja, das heißt aber nicht, daß ich ihn nicht mitnehmen will, er ist doch schon einmal gebucht. Falsche Antwort, jetzt wird das Verhör intensiver, wo ist er denn schon gebucht, man möge das bitte auf dem Terminal zeigen. Von so viel Mißtrauen genervt versuche ich nebenbei dann noch in Ruhe meinem Kind den Unterschied zwischen einem Storno und einer Buchung klarzumachen. Ab jetzt ist man ganz verdächtig und die anderen Aufsichtskräfte samt offenbarem Oberaufseher (vier Kassen, drei Aufseher in Ikeagelb und ein Oberaufseher in Zivil) beäugen den weiteren Vorgang argwöhnisch. Ob der Oberaufseher in Zivil einer Sicherheitsfirma angehört, der sich heroisch vor den voll bepackten Einkaufswagen wirft, sollte man es wagen Ikea zu betrügen? Oder warum trägt der immer kein Ikea-Shirt und steht noch weiter weg, ohne daß er verheimlichen kann, was seine Aufgabe ist? Vielleicht sind es auch alte Stasimitarbeiter - die waren auch immer so unauffällig. Langsam wird aus dem Scannerspiel ein Ärgernis bei dem man sich nur noch Unwohl fühlt, weil die Aufsicht einen auf die Pelle rückt und man jetzt bloß keinen Fehler mehr machen will. Andere SB-Kassenanbieter kontrollieren übrigens auch. Ohne geht es wohl nicht. Aber das läuft dann wenigstens unaufdringlicher ab, in dem einfach alle Waren gewogen werden oder anschließend eine Aufsicht einen schnellen Blick auf den Kassenbon und den Einkaufswagen wirft. Wer mal in der Metro eingekauft hat, der weiß, wie fit diese Leute sind und den Wert eines Einkaufswagens ziemlich gut abschätzen können, ohne jeden Artikel abzuhaken. Kurz vor dem Finale dann aber der GAU. Da haben wir es wieder: wir haben das eine Brett aus dem riesigen Stapel Einlegeböden erwischt, welches keinen Code aufgedruckt hat. Und nun? Hilfe durch die Aufsicht? Nicht doch. Ratlos werden Listen gewälzt, zieht man sich zurück und kommt dann irgendwann zurück mit einer Artikelnummer. Inzwischen habe ich die anderen Teile bezahlt und spiele aus Langeweile mit dem Scanner. Piep! Wieder was gescannt. Jetzt ist aber aus mit lustig! So geht das ja nicht, werde ich zurechtgewiesen.
Wohnen und kaufen darf man, leben und Spaß haben besser nicht. Quelle: Werbespot Ikea

Ja, ich schäme mich, wie kann ich nur. Ist doch ein Storno wie wir wissen so eine komplizierte Sache und die vier Kräfte sind doch schon so überfordert mit dem Spionieren und Preis fürs Brett sondieren. Wo sind nur die netten fröhlichen Leute aus den Werbespots und Werbeaufstellern, die uns alle zu einer Ikea-Family machen wollen und mich duzen? Eine bemitleidenswerte Familie, in der so viel Mißtrauen herrscht. Aber jetzt geht's weiter, hier ist der Code, noch mal zwölf Euro bitte. Nein, das Teil kostet nur sieben! Kann nicht sein, der Kollege hat es doch ausgedruckt. Ja, aber ich weiß es auch, ich habe es aus dem Regal genommen, ich habe zuvor im Internet nachgeschaut, meine Tochter hat fein säuberlich Regalplatz, Artikelnummer und Preis mit einem dieser netten kleinen Bleistifte auf einen Merkzettel geschrieben (nach dem wir übrigens unseren Spaß an einem Infoterminal hatten, an dem es auch einen Scanner gab - hier zum Glück ohne Aufsicht, wer weiß ob wir nicht längst des schnöden Hochregallagers verwiesen worden wären, hätten die uns dabei zugesehen) und all unsere Angaben weichen von denen des allwissenden Kollegen ab. Langes hin und her, der Kollege muß per se Recht haben. Dem Kunden ist zu mißtrauen, wie uns ja nun bereits vorgelebt wurde. Also hole ich mir wutschnaubend ein neues Brett und zahle sieben Euro an einer Bummelkasse (oder wie nennt man die nicht-Expresskassen jetzt?) mit Kassiererin (bei der so wenig Andrang herrscht, daß Sie nebenbei noch die Regale in ihrem Bereich sortieren konnte, bevor Sie mich nett begrüßte und sich zu ihrer Kasse begab). Das geht schneller! Und wenn ich gewollt hätte, hätte ich mir auch noch die Zeit für einen kurzen Schwatz oder gar Flirt nehmen können (wäre ich nicht noch immer so auf expressartigen 180). Mit den Kontrollkräften will ich bestimmt nicht quatschen oder flirten und irgendwann werden auch die wegrationalisiert sein.

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